Im Willen, den Nachbarn besser kennenzulernen (16. Oktober 2010)

Im Willen, den Nachbarn besser kennenzulernen

Archive: Vor 40 Jahren gründeten die in Bullau beheimateten Gertrud und Udo Kühn ihre »Polen-Information«


BULLAU/DARMSTADT.
Die Neue Zürcher Zeitung hat einen ihrer treuesten Leser im Erbacher Stadtteil Bullau. Udo Kühn lernte das Blatt Ende der sechziger Jahre kennen, und er schätzte schon damals die sachlich distanzierte Art des Journalismus, der die Ereignisse aus einem gewissen Abstand heraus betrachtet. Artikel der Neuen Zürcher bilden denn auch einen Schwerpunkt des Archivs, das Kühn in 40 Jahren mit seiner Frau Gertrud aufgebaut hat.

Die »Dokumentation Polen-Information« enthält inzwischen über 50 000 Dokumente zur Geschichte und Gegenwart des Nachbarlandes und zu den deutsch-polnischen Beziehungen, vor allem Zeitungsausschnitte. Im Deutschen Polen-Institut, wo das Archiv als Leihgabe steht, ist es ein geschätztes Arbeitsmittel für Stipendiaten und Gastwissenschaftler.

In einer kleinen Feierstunde würdigte Institutsdirektor Dieter Bingen Kühns Arbeit; der Archivar habe nicht nur gesammelt, sondern das Material auch inhaltlich erschlossen. So entstand »nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein Arbeitsmittel«, sagte Bingen, und die Mitarbeiter des Polen-Instituts brachten dem Archiv und seinen Gründern spontan ein Geburtstagsständchen in polnischer Sprache.

Die Computertechnik hat die Archivarbeit verändert. Zwar schneidet Gertrud Kühn noch heute jeden Tag Zeitungen aus, darunter auch die Lieferungen befreundeter Zuträger. Geplant ist aber, das gesamte Archiv im Internet recherchierbar zu machen. Weil die Datenbankpflege aufwendig ist, rechnet Kühn für die Erfassung eines Dokumentes 15 Minuten. Die Arbeit, die mit der Archivpflege verbunden ist, nehmen die Kühns, beide über achtzig, gerne auf sich. Weil das Material längst die Kapazitäten des Hauses in Bullau sprengt, steht als Archiv ein Bauwagen im Garten.

Dieses ganz praktische Beispiel deutsch-polnischer Verständigung ist zehn Jahre älter als das Polen-Institut, mit dessen Gründer Karl Dedecius die Kühns schon früh in Verbindung standen. An einem Kiosk in Bonn war Kühn auf die »Monatsschrift Polen« gestoßen und wurde ihr Abonnent. Und als das Blatt einmal fragte, was die Deutschen wohl von der polnischen Geschichte wissen, musste er passen. »Es gibt einen gewaltigen Nachholbedarf an Informationen über Polen«, sagt Kühn. Dem wollte er begegnen, und weil er kein Freund von halben Sachen ist, sammelten sich in wenigen Wochen dicke Mappen, und die Materialflut stieg weiter.

Erster Lohn war eine Einladung nach Polen, die seinen Eifer noch verstärkte. Der Ingenieur absolvierte in seiner Freizeit eine Ausbildung zum wissenschaftlichen Dokumentar um professionell arbeiten zu können. Aber alles Lob vertrieb bei der Feierstunde doch nicht die freundliche Bescheidenheit, die Gertrud und Udo Kühn auszeichnet. »Natürlich fehlt viel«, sagt er über sein Archiv. »Aber es ist auch viel da.«


aus: Echo online (Darmstädter Echo), 16. Oktober 2010
Quellennachweis: http://www.echo-online.de/



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